Der Existenzkampf und die Überwindung der Lebensangst

Vielleicht haben Sie nun eine Vorstellung von den Gefühlen, welche die zentralaustralischen Eingeborenen ihrem Land gegenüber hegten und auch von ihren religiösen Anschauungen, welche in ihren magischen Fruchtbarkeitszeremonien und in ihren geheimen totemistischen Kulten zum Ausdruck kamen.

Das Leben ist für sie ein Schachbrett mit schwarzen und weissen Feldern, mit unerträglichen Zeiten der Daseinsnot, die sich mit anderen bequemen Jahren abwechseln. In dieser Zeit konnten sie sich Tag für Tag mit reichlicher Nahrung versorgen, ohne sich um den kommenden Morgen zu kümmern. Sie brauchten nur in die vertrockneten Tümpel hineinwaten, um die Fische mit Zweigen aufs trockene Land zu werfen.

Dabei hatten die Aborigines so viele Wasservögel und Beutetiere, dass sie nur die besten und fettesten Bissen auswāhlten und das Übrige wegwarfen.

In solchen Zeiten führten die zentralaustralischen Eingeborenen ein bequemes Leben wie das der sorglosen reichen weissen Menschen. Sie wurden sogar von diesen wegen ihrer Verschwendungssucht oft kritisiert. wir die Kunst, im Rhythmus mit der Natur zu leben.

Im Vergleich zu Europa, besaßen die Aborigines niemals Haustiere, welche geweidet oder Pflanzen, die hier angebaut werden mussten. Jede arbeitsfähige Person musste deshalb jeden Tag auf Nahrungssuche gehen, weil man keine Vorräte für die immer wiederkehrenden trockenen Jahre anlegen konnte. Und so regte sich auch bei den Aborigines der Wunsch, ihre Umwelt spirituell zu beherrschen, um sich gegen Hunger, Krankheit und Tod zu schützen. In ihrer Religion fanden sie nun, wenn auch nicht wirkliche Sicherheit, so doch das Nächstbeste: ein außerordentliches Sicherheitsgefühl gegenüber den Umweltgefahren.

Es gelang ihnen im hohen Masse, den größten Feind der Menschheit zu beherrschen: die Furcht!

Die Furcht vor Krankheit, die Furcht vor dem Verhungern, die Furcht vor dem Tode und ganz besonders die Furcht vor anderen Mitmenschen.

Viele Formen dieser Furcht haben wir in der zivilisierten Welt durch den Fortschritt der Wissenschaft überwunden. Doch müssen wir gestehen, dass auch nach Jahrtausenden immer noch kein Mittel gegen die Furcht vor unseren Mitmenschen und die Existenzangst gefunden wurde.

Diese Furcht ist sowohl die Folge der wirtschaftlichen, finanziellen Krisen als auch der vielen verheerende Kriege und des Wettrüstens. Selbst die Erfindung der Atombombe hat dieses Furchtgefühl eher verschärft als gemildert.

Im Vergleich dazu überwanden die Aborigines die Furcht vor dem Leben durch ihren Glauben an die Gegenwart von übernatürlichen Wesen in ihrer unmittelbaren Umwelt. Die Erde wurde von ihnen als ewig und unsterblich angesehen. Sie sahen den Anfang der Welt wie eine eintönige Einöde, aber sie erkannten auch an vielen Orten der Natur übernatürliche Wesen mit übernatürlichen Kräften, die hier seit dem Anfang der Welt darauf im ewigem Schlafe gewartet hatten, von ihnen entdeckt zu werden.

Mt SonderBild Mt Sonder

Dann kam die Zeit, wo diese Wesen aus ihren Erdlöchern und Höhlen hervorbrachen, jedes an seinem bestimmten Ort. Diese heiligen Stätten waren später als Quellen, Wasserlöcher, Sümpfe usw. gekennzeichnet. Jedes dieser Wesen war mit einem bestimmten Tiere oder einer bestimmten Pflanze innig verbunden. Ein Wildkatzenvorvater wandelte meist in menschlicher Gestalt umher, konnte sich jedoch nach Belieben in eine Wildkatze verwandeln konnte. So waren auch die Menschen ins Dasein gekommen. Sie wurden als Wiederverkörperungen ihrer übernatürlichen Vorfahren oder ihrer übernatürlichen Kinder angesehen.

Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe hing von dem Ort ab, an welchem die schwangere Mutter die ersten Kindsbewegungen spürte und welches Tier oder welcher heilige Baum sie gerade wahrgenommen hatte.

Aus diesem Grunde weigerte sich auch normalerweise ein Mann, der dem Kängurutotem angehörte, Kängurus zu töten und zu essen, weil er glaubte, dass sowohl er selbst, als auch diese Tiere von einem gemeinsamen Vorfahren abstammten. Dies war also das Band zwischen Mensch und Tier oder Pflanze, welche er als sein Totem ansah: sowohl er selbst als auch dieses Tier oder diese Pflanze haben Anteil an seinem eigenen Leben.

Kängurus als Totem TierBild Kängurus als Totem Tier

Die Aborigines glaubten auch, dass diese Totem - Vorfahren die charakteristischen Züge des gegenwärtigen Landschaftsbildes gestaltet hatten: die Felsen, die Hügel, die Berge und die Bäume. Am Ende ihrer Tage seien diese übernatürlichen Wesen auch entweder in den Mutterschoß der Erde zurückgekehrt, dem sie entsprossen waren, oder sie hätten sich verwandelt in heilige Felsen, heilige Bäume oder Tjurungasteine und Hölzer.

Mac Donnald Ranges mit Finke RiverBild Mac Donnald Ranges mit Finke River

Nun lägen sie in ewigem Schlafe wie vor Beginn der Weltzeit. Aber sie besässen immer noch die Macht, die Erde mit den Tieren und Pflanzen ihres eigenen Totems zu füllen oder Regen zu machen.

Die Aborigines glaubten, dass diese magischen Riten Erfolg hatten, wenn man die symbolischen Rituale unverändert aufführt und die althergebrachten Geheimlieder singt und tanzt. Man kann annehmen, dass man es hier mit den ältesten Riten der Menschheit zu tun hat: die Zeremonien der Aborigines sind wohl viele Jahrhunderte, wenn nicht sogar viele Jahrtausende alt.

 

Der Watarka Film

Die zentralaustralischen Geheimzeremonien kann man in zwei Hauptgruppen einteilen.

1. Magische Fruchtbarkeitszeremonien

2. Zeremonien zum Andenken an die Totemvorfahren.

An beiden Arten durften nur die erwachsenen, eingeweihten Männer teilnehmen. Es war Frauen und Kindern bei Todesstrafe verboten, sich den Zeremonienorten auch nur zu nähern.

Magische Fruchtbarkeitszeremonien

Die Furchtbarkeitszeremonien der Kängurus fanden auf der Kukatja Kultstätte von Ajali statt.

Es wurde hier dazu ein Bodengemälde angefertigt, welches die heilige Stätte Ajali darstellt, von der viele Kukatja Känguruvorfahren gekommen Der sein sollen.

Der Känguru Ajail Kult

Die Männer der Ajail Totemgruppe versammeln sich. Zu dieser Gruppe gehören diejenigen Männer, welche als Wiederverkörperung dieser Känguruvorfahren angesehen werden. Ausserdem gehören die Männer dazu, welche die Tjurunga ihrer Väter, Großväter oder älteren Brüder geerbt haben (siehe „Wüstentanz"), d. h. diese Männer müssen ein wiedergeborener Känguruvorfahren sein, denn nur Känguruhblut, also das Blut von Männern, die zum Känguru Kult gehören, darf den Boden mit Blut tränken, von denen man glaubt, dass hier Hunderte von Kängurus auf die Welt gekommen sind.

Die Zeremonien zum Andenken an die Totemvorfahren

Im zweiten Akt der Zeremonien sollen die angehörigen Männer einer Totemgruppe in der Gestalt ihrer grossen Totemvorfahren vorgeführt werden, wie man glaubt, dass sie einst auf der Erde umhergewandert sind. Alle Szenen in diesem Zyklus sind sorgfältig nach dem Grade ihrer Heiligkeit abgestuft. In den Anfangsszenen werden die noch nicht so hoch geschätzten, meist jüngsten Söhne der Vorfahren vorgestellt. Der Höhepunkt wird erst nach Wochen oder Monaten Feier mit vielen Kultobjekten erreicht. Bei den nördlichen Aranda werden auch die Zeremonienpfähle mitgeführt.

Jüngere Männer durften zunächst nur bei geringeren Szenen zugegen sein, deshalb führte man sie meistens nachts ohne sie auf. Die jungen Männer schickte man tagsüber auf die Jagd, die Alten blieben dann zurück, um wichtigere Zeremonien vorzuführen. Erst ein Mann mit 40 Jahren durfte die letzten Geheimnisse der Zeremonien sehen.

Die Aufführungen selbst waren meist von grösster Einfachheit. Es sollten hauptsächlich die übernatürlichen Wesen den Männern ihres Totems dargestellt werden. Letztere ehrten diese Wesen durch stundenlanges Singen von Geheimliedern. Während des Schmückens der Darsteller fūhrten die jüngeren Männer einen ganz einfachen Warkuntuma Tanz auf, indem sie um die geschmückten Darsteller herumtanzten.

Die Geheimlieder

Die Geheimlieder welche man bei solchen Gelegenheiten sang, waren eigentlich nicht Lieder im Sinne des Wortes, sondern althergebrachte Gedichte, welche nach traditionellen Weisen gesungen wurden. In unseren Liedern ist die Melodie meist das Wichtigste, in den Geheimliedern achtet man hauptsächlich auf den Rhythmus und der Sänger durfte in der Wiederholung ziemlich frei mit der Melodie verfahren.

In Zentralaustralien waren die Geheimlieder fast immer in Verspaaren verfasst. Jedes Verspaar ist der vollendete Ausdruck eines Gedankens oder eines Teiles einer Beschreibung. Der Rhythmus entsteht oft durch das Zusammenschlagen von Bumerangs oder durch Hämmern mit Feuerfackeln.

Die rhythmischen Formen sind von bewundernswerter Mannigfaltigkeit. Auch die Verspaare dieser Geheimlieder sind sorgfältig abgestuft und nur die als geringer angesehenen dürfen auch von den jungen Männern gesungen werden.

Man glaubt, dass die Zeremonien nur dann die gewünschten Wirkungen erzielten, wenn man die dazu gehörigen Geheimverse gesungen hat, die sich von den ursprünglichen Totemvorfahren auf ihre menschlichen Nachkommen vererbt hatten. Alle voll eingeweihten Männer mussten eins dieser Lieder ihres Totems auswendig lernen.

Die Ljaba Sage

Die Ljaba Sage kann man so kurz zusammenfassen: In Ljaba gab es zu Beginn der Weltzeit einen heiligen Brunnen, in welchem eine gewaltige Totemstange stand. Aus diesem Brunnen kam dann der ursprüngliche Honigameisen-Vatervorfahre auf die Welt. Von seinem Körper kamen menschlich gestaltete Söhne und Töchter wie auch Schwärme von Honigameisen hervor bis die ganze Ljaba Ebene von seinen Sprösslingen bevölkert war. Irgendwann verlassen die Söhne ihren Vater. Gruppenweise zogen sie in alle vier Himmelsrichtungen zu den Honigameisen-Kultstätten anderer Stämme. Die letzte Gruppe, welche nach Westen gezogen war, traf dort den Hundevorfahren Tjularka und wurde von diesem nach Ljaba zurück getrieben. Hier flüchteten sie sich auf die Tnatantjastange, welche anschliessend mit ihnen in die Tiefe des Brunnens versank.

Ltaba-Film

Die zweite Totemstange steht im Zusammenhand mit der ursprünglichen Stange, welche im Brunnen von Ljaba stand, bevor sich irgendwelche Wesen auf der Erde befanden. Zweifelsohne symbolisieren diese zwei heiligen Kultobjekte das männliche und das weibliche Prinzip, denn man war der Auffassung, das Leben selber durch eine ewige Vereinigung dieser beiden Grundsätze entsteht.

Grundsätzlich kann man zusammenfassend sagen, dass die zentralaustralischen Eingeborenen keine Götter im Himmel anbeteten. Ihre übernatürlichen Wesen schlummerten an den heiligen Orten, in ihrem eigenen Vaterland. Entweder unsichtbar in Wasserlöchern und Quellen oder sichtbar als Felsen oder Bäume. Durch die Rituale wurden sie wieder in leiblicher Gestalt als Totemgruppe erweckt. Die Darsteller selbst waren aus derselben Substanz wie die übernatürlichen Wesen. Wenn sie mit Blut und Adlerdaunen geschmückt waren, wurden sie mit diesen übernatürlichen Wesen identisch und durften dann überhaupt nicht mehr reden, bis die Darstellung zu Ende war, was manchmal Stunden dauerte.

Während der Vorführung eines langen Zeremonien Zyklus spürten die Eingeborenen, dass sie täglich in der Gegenwart ihrer übernatürlichen Wesen lebten. Diese waren aber zugleich Personen, mit welchen sie vertraulich zusammenlebten.

Es war nicht nötig zu diesen übernatürlichen Wesen zu beten. Sie hatten ihnen ihre eigenen Zauberverse zurückgelassen, mit deren Hilfe sie Krankheiten heilen konnten, Rituale feiern und sogar das Wetter beeinflussen konnten. Wenn die Wirkung ausblieb, so wurde die Schuld auf verhinderte Zauberei von Feinden geschoben. Alle diese Resultate aber konnten nur dann von den eingeweihten Männern erreicht werden, wenn sie sich in der Nähe der heiligen Stätten aufhielten und wenn sie die Riten wortgetreu und regelmässig ausführten.

Kein Leben ohne Spiritualität

Die Religion wurde deshalb als etwas außerordentlich Lebensnotwendiges, Lebensspendendes und Praktisches angesehen. Die die Känguru Totemgruppe, die Honigameisentotemgruppe und alle anderen Totemgruppen wurden als Nahrungsquelle angesehen. Zwar pflügten sie keine Felder, auch weideten sie keine Herden, aber sie opferten stattdessen ihr eigenes Blut.

Heute ist das wegen der AIDS Gefahr gar nicht mehr möglich.

Manchmal dauerten die Riten bis zur Erschöpfung. Die Totemgruppe nahm all dieses auf sich in dem Glauben, dass sie dadurch Nahrung für ihre Genossen erzeugte und dass sie durch ihre Anstrengungen das Ihrige getan hatten, um den drohenden Nöten der immerwährend wiederkehrenden Dürren vorzubeugen oder sie wenigstens zu lindern.

Die Aborigines lebten in einer gemeinsamen Lebensverbundenheit mit allen anderen Menschen, mit der Natur den Tieren und mit den übernatürlichen Wesen.

ZentralaustralienDies war das persönliche Band mit dem sie mit allen Tieren, Bäumen und Felsen ihrer Umgebung verbunden waren. Auf diese Art und Weise erhielten sie die Macht und Kraft, selbst dieses trockene und sonnenverbranntes Stück Wüste in ein Paradies zu verwandeln. Wenn sie auf die Tiere, die Bäume und die Felsen ihrer Heimat schauten, so erhielten sie neue Kraft, in Zeiten von grausamer Dürren und während verheerender Seuchen das Leben zu meistern.

Solange die Berge stehen, die Quellen sprudelten, die Tiere am Leben blieben und die Felsen der Totemvorfahren unbeschädigt blieben, konnten die Menschen ohne Furcht in die Zukunft schauen.