Die Tjurunga - Ikone aus der Ewigkeit

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„Hier ist deine Tjurunga. Sie ist dein eigener Körper, von dem du wiedergeboren bist. Es ist der wahrhaftige Körper des großen Urahns.

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Wie eine Ikone den Blick in die Ewigkeit frei gibt, war die Tjurunga – eine Tafel aus Stein oder Holz – die sichtbare Verkörperung der göttlichen Wüstenväter.

Mehr als jeder andere zeremonielle Gegenstand symbolisiert die Tjurunga das spirituelle Erbe seiner göttlichen Abstammung: Ja, diese Tjurunga war der Gegenstand, in den sich sein göttlicher Urvater am Ende seiner Pilgerreise durch Australien selber verwandelt hatte

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In einem unvergesslichen Moment seines Lebens wurde dem jungen Mann auf dem Zeremonienplatz eine eigene Tjurunga ausgehändigt, nachdem er alle Initiationsprüfungen bestanden hatte. Nun wurden ihm die Symbole auf der Tjurunga erklärt und dazu die zugehörigen Gesänge in einer Geheimsprache gesungen. Einen auserwählten Novizen mit außergewöhnlichen Führungsqualifikationen gaben die Alten eine besonders wertvolle Stein-Tjurunga mit den Worten:

„Hier ist deine Tjurunga. Sie ist dein eigener Körper, von dem du wiedergeboren bist. Es ist der wahrhaftige Körper des großen Urahns der Bandikuts, dem Chef dieser Höhle. Alle anderen Tjurungas sind die Körper der Bandikutmänner, die einst hier lebten. Du bist nun selbst der große Urvater. Heute lernst du die Wahrheit kennen. Von nun an bist du der Chef des Zeremonienplatzes von Ilbalintja. Alle Tjurungas sind dir von heute anvertraut. Schütze sie, achte das Haus deiner Urväter, verehre die Tradition deines Volkes. Du wirst noch viel mehr heilige Zeremonien und Gesänge kennen lernen. Sie sind alle dein Erbe. Wir haben sie für dich aufbewahrt. Du bist nun selbst in der Lage, alle Werke deiner Urväter zu vollbringen, die Magie, Zauber und Natur untertan zu machen und zu kontrollieren, Pflanzen und Tiere wachsen zu lassen, Krankheiten zu heilen, Feinde zu besiegen, Wetter zu regeln, Wind und Regen zu machen und die Liebe der Frauen zu erwecken.

Wir werden jetzt alt, und wir geben nun alles an dich weiter, da du nun der wahrhafte Chef von Ilbalintja bist. Behalte die Tjurunga und bewahre sie geheim, bis du selber alt wirst, und dann gebe die Zeremonien an die Jungen weiter, damit die Tradition lebendig bleibt, bis ein neuer Chef geboren wird."

Die Tjrungas, Mythen, Zeremonien und Tänze waren der einzige persönliche Besitz in der besitzlosen Gesellschaft Zentralaustraliens. Die jungen Leute mussten 25 Jahre warten, bis sie ihre eigene Tjurunga zu Gesicht bekamen. Noch bis zum 45. Und 40. Lebensjahr lernten sie immer wieder neue Gesänge und Zeremonien kennen. Ein großer Zeremonienmeister beherrschte bis zu 6.000 Lieder und Tänze.

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Mit dem Alter nahm seine Würde und Autorität in dem Maße zu, wie die Zahl der ihm bekannten Zeremonien und Gesänge wuchs. Auf den Tjurungas spiegelte sich nicht nur die äußere Landschaft Australiens sondern auch die spirituelle Lebensbotschaft wieder. Wie Fingerabdrücke verraten die Rillen, Kreise und Spiralen die mythologische Landkarte Australiens, Wasserlöcher, Gebirge, Flüsse, Zeremonienplätze, aber auch Bäume, Pflanzen und Tiere. Erstaunlicherweise erinnern die Muster auf den Tjurungas an die Bausteine und Energiezentren einer mikroskopisch vergrößerten Körperzelle.

Die Identifikation mit der Tjurunga eröffnete dem Aborigine eine Chance, aus seiner Zeit hier und jetzt herauszutreten, um mit seinem spirituellen Ursprung, ja mit der Schöpfung selber, Verbindung aufzunehmen. Dadurch eröffnete sich ihm ein einmaliges Zusammengehörigkeitsgefühl, das seinem ganzen Leben Richtung und Ziel gab. Mit Tiere und Pflanzen,Berge und Flüsse trat er in ein verwandtschaftliches Verhältnis. So erlangte er seine Würde. „Das große Känguru und ich, wir sind eins"; mit anderen Worten: „ Ich und das Känguru wir sind Brüder." Diese Gewissheit überstieg alle Dimensionen menschlichen Denkens und garantieren das friedliche Zusammenleben aller von Anfang der Schöpfung bis jetzt.

Die großen mittelalterlichen Mystiker Franz von Assissi, Meister Ekkehard und Hildegard von Bingen hatten die gleiche Sicht spiritueller Verwandtschaft, die als universales Lebensprinzip in der Grundschöpfung verankert war:

„Alles, was in der Ordnung Gottes steht, antwortet einander.

Die Sterne funkeln vom Licht des Mondes.

Der Mond leuchtet vom Feuer der Sonne.

Alles dient einem Höheren, und nichts überschreitet sein Maß".

(Hildegard von Bingen)

Dieses Bewusstsein gibt uns allen und den kommenden Generationen eine Chance, die Schöpfung weiterhin zu feiern und erinnert uns daran, dass wir alle aufeinander angewiesen sind.